16. Filmische Antike im Kontext: Die Göttinger Sammlung Stern
Martin Lindner (Althistorisches Seminar Göttingen),
Kurator des ersten Archivs für Antike und Film
Das Altertumswissenschaftliche Filmarchiv Sammlung Stern ist die jüngste der Göttinger universitären Sammlungen [1] und geht zurück auf den Nachlass von Tom Stern (1958–2016). Letzterer war als studierter Archäologe primär im vorderasiatischen Kulturraum und der Ur- und Frühgeschichte aktiv. In der Folge wirkte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, später im Essener Ruhrlandmuseum – heute: Ruhr Museum – vor allem in der Vermittlungsarbeit. Dazu gehörten mehrere in Verbindung mit Charlotte Trümpler entstandene Sonderausstellungen wie „Agatha Christie und der Orient“, die auch außerhalb Deutschlands als Wanderausstellungen erfolgreich waren. [2] In seiner museumspädagogischen Arbeit wie in seiner Forschung zeigte Tom Stern besonderes Interesse an der doppelten Funktion von Film: als Dokumentation- und Inszenierungsmittel von altertumswissenschaftlichen Inhalten, Methoden und Akteuren. [3]
Über viele Jahrzehnte entstand so eine weltweit einmalige Privatsammlung, die Tom Stern unter anderem für Lehraufträge an den Universitäten Bochum und Köln einsetzte. Zusätzlich engagierte er sich in der politischen Bildung und populären Geschichtsvermittlung. Dazu gehören auch die zahlreichen Vorträge, oft in Verbindung mit dem Filmhistoriker Thomas Tode, wofür die beiden Filmcollagen erstellten, die nun ebenfalls Teil der Göttinger Sammlung Stern sind. Hinzu kamen Medien aus Tom Sterns langjähriger Tätigkeit rund um den mittlerweile aufgelösten Verein Cinarchea, der alle zwei Jahre ein auch international viel beachtetes Archäologie-Filmfestival mit Begleitsymposium realisiert hatte.
Der Nachlass umfasste nicht nur eine hohe dreistellige Anzahl an Filmen, dabei im Schwerpunkt Dokumentationen, Schul- und Propagandafilme. Vielmehr sammelte Tom Stern im Sinne von „der Antikfilm in seinem Kontext“ auch Begleitpublikationen, Merchandising, Schulmaterialien, Filmplakate und vieles mehr. Zum Abspielen und Reparieren der diversen Medien verfügte er außerdem über eine kleine Techniksammlung, die vom VHS-Recorder über Klebepressen bis zum 16mm-Projektor reichte. Den Kern der in zwei Tranchen nach Göttingen gelangten Bestände bilden allerdings mehrere Hundert VHS- und S-VHS-Kassetten, dazu eine kleinere Anzahl an Filmen auf 8mm- und 16mm-Rollen, Laserdisc, Video-CD und DVD.
Seit der Übernahme des Nachlasses im August 2017 – und nochmals intensiver seit der Eröffnung als universitäre Einrichtung im Januar 2019 – sind diese Grundbestände durch Zuspenden stark angewachsen. [4] So überließ uns etwa der Filmwissenschaftler und Dokumentarfilmer Kurt Denzer (1939–2021) noch zu Lebzeiten die komplette Bibliothek der AG Film, die er über Jahrzehnte an der Universität Kiel als ein auch bei Film- und Fernsehschaffenden gefragtes Kompetenzzentrum aufgebaut hatte. Dazu kamen seine gesammelten filmischen Arbeiten und Materialien der Cinarchea-Festivals, die unsere Bestände im Bereich des Archäologiefilms verstärkten. [5]
Für das Thema „Reenactment im Film“ verfügen wir inzwischen ebenfalls über umfangreiches Material. Diesmal war die Quelle der Historiker Georg Koch, der uns nach Abschluss seiner Studie über die Darstellung der Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren [6] seine gesammelten Filme vermachte. Über einhundert Schulfilme konnten wir übernehmen, als das Medienzentrum des Landkreises Göttingen seine Lehrmittelsammlung an 16mm-Filmen und Medienkombinationen auflöste. Viele kleinere Spenden sind nicht minder wichtig: etwa ein S-VHS-Recorder oder ein historisches Filmlexikon, die uns Besucher unserer letzten Veranstaltungen überreichten.
Das „Spielfeld“ unserer Sammlung Stern ist die Antike und ihre Erforschung im Film – im weitesten Sinne. Wir haben inzwischen weit über 1.000 filmische Zeugnisse jeglicher Couleur: Natürlich sind darunter diverse Versionen von Ben Hur oder Quo Vadis, aber auch Dokumentarfilme über römische Provinzen, Edutainment-Serien über griechische Mythen, Spielfilme über Heinrich Schliemann, Reportagen über Unterwasserarchäologie, dazu Werbefilme, Schulfilme, Propagandafilme und vieles mehr. Unsere Bibliothek ist ebenso Forschungs- wie Materialsammlung. Daher steht neben einer Studie über den „Germanenfilm“ auch ein Bildband zur Terra X-Reihe oder ein verfilmtes Kinderbuch. Aktuell fordern uns arbeitsmäßig vor allem die Zuwächse an Vorführtechnik sowie an Memorabilia mit Filmbezug.
Neuzugänge der Sammlung Stern harren ihrer Erfassung
Bild: Xikai Chen
Der Blick auf unsere Aktivitäten der letzten zwölf Monate mag helfen, die Bandbreite unserer Tätigkeiten einzuschätzen: Wir waren an den Universitäten Oldenburg und Vechta, um angehende Lehrer:innen im Umgang mit Filmbeispielen im Unterricht zu schulen. Für eine Gruppe der Universitätsmedizin Göttingen haben wir Filme und Lehrmaterialien der 1950er Jahre zum Thema „Der frühe Mensch“ vorgeführt. Den Winter über lief der letzte Teil eines Projektseminars, aus dem der studentische Sammelband Was bleibt? Innovation und Techniken in den Altertumswissenschaften mit einem Beitrag zur Arbeit der Sammlung Stern entstanden ist. [7] Im zeitnah erschienenen Tagungsband „Semitische Wissenschaften“? Ägyptologie und Altorientalistik im „Dritten Reich“ [8] sind nicht nur Beispiele aus unserer Sammlung vertreten. Eines davon – Germanen gegen Pharaonen – wurde sogar bei der Buchpräsentation vorgeführt. Wir hatten eine Gastdoktorandin, einen chinesischen Werkstudierenden und eine deutsche Schülerpraktikantin für jeweils mehrere Wochen im Haus. Es gab ein Weihnachts- und ein Sommerwunschkino für die Fachgruppen; gewählt wurde von den Studierenden übrigens jeweils ein Klassiker der 1950er Jahre: Die Gladiatoren und Attila, die Geißel Gottes. Wir hatten geführte Touren für Schüler- und Studierendengruppen, Individualberatungen für ein halbes Dutzend Forschende, zwei Abschlussarbeiten über fachdidaktische Themen und vieles mehr.
Wie lassen sich angesichts einer solche Mischung Ziele und Aufgaben des Altertumswissenschaftlichen Filmarchivs Sammlung Stern fassen? Der Name unserer Einrichtung verweist auf die verschiedenen Aspekte, die wir hinsichtlich der genannten Bestände zu berücksichtigen haben: Wir sind für alle altertumswissenschaftlichen Inhalte und Zugriffe offen. Als ehemals privates Filmarchiv verwalten wir den (filmischen) Nachlass von Tom Stern, aber auch von weiteren Spenderinnen und Spendern. Als akademische Sammlung führen wir Zeugnisse für die filmische Praxis von der Produktion bis zur Nutzung zusammen, systematisieren, erhalten und untersuchen sie, und machen sie für die Forschung zugänglich. Als Einrichtung, die dem Althistorischen Seminar angegliedert ist, bieten wir altertumswissenschaftliche Lehrveranstaltungen mit Sammlungsbezug an und schulen den akademischen Nachwuchs. Als Lehrmittelsammlung beraten wir zur didaktischen Nutzung, stellen Digitalisate zur Verfügung und informieren mit Begleitvorträgen auch außerhalb der Schule über Chancen und Risiken. Als Einrichtung der Universität Göttingen beteiligen wir uns an deren third mission, etwa indem wir öffentlich zugängliche Konferenzen, kommentierte Filmvorführungen oder Aktionen mit Geschichtsvereinen, Lehrerverbänden, Museen oder Gedenkstätten organisieren.
Tom Sterns Anliegen war stets, die Altertumswissenschaften im (und durch) das Medium Film in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Dazu gehörte für ihn selbstverständlich die kritische Auseinandersetzung mit der Instrumentalisierung der Wissenschaft und ihrer vermeintlich objektiven Wahrheiten. In diesem Sinne wäre er wohl angetan, dass wir kommentierte Vorführungen und Diskussionen von „Pangermanismus“-Filmen der 1930er Jahre anbieten – so geschehen etwa in Schulen, Gedenkstätten oder auch bei einer Fortbildung für eine Neonazi-Aussteigerberatung. Hoffentlich ebenso positiv würde er auf weniger ernsthafte Formate reagieren, die eine breite Öffentlichkeit ansprechen. In Kooperation mit einer lokalen Weinhandlung haben wir jeweils gemeinsam das Objekt des Monats und einen passenden Wein präsentiert. Von einer launigen Stunde über Frühgeschichte im Schulfilm blieb eine leere Flasche Hagnauer Fellchen, für den die Trauben unweit von Tom Sterns erster Arbeitsstätte gewachsen waren. Die beim Vortrag geleerte Flasche steht nun im Sammlungsschaufenster des Göttinger Universitätsmuseums Forum Wissen zwischen den Objekten, mit denen wir die Vielfalt unserer Öffentlichkeitsarbeit demonstrieren. [9]
Einräumen des „Sammlungsschaufensters“ (noch ohne Weinflasche) unter Corona-Bedingungen
Foto: Martin Liebetruth
Derartige Beispiele zeigen, wie unsere einmalige Einrichtung Anknüpfungspunkte schaffen kann, die der „normalen“ altertumswissenschaftlichen Arbeit an Universitäten meist verwehrt bleiben. Es hilft bei der Akzeptanz innerhalb der akademischen Institution, dass die Rezeptionsforschung in den vergangenen Jahrzehnten ihren Platz in Forschung und Lehre erobert hat. Dennoch bleibt die Zukunft der Sammlung Stern in jeglicher Hinsicht offen: Sie bietet spannende Möglichkeiten, die auch mich als ehrenamtlichen Kurator jedes Mal aufs Neue begeistern. Die Struktur der Sammlung ist dynamisch, ganz wie das Forschungsfeld, mit dem sie verbunden ist. Sie steht aber als junge und kleine Einrichtung ebenso in den Sachzwängen, die wir alle in Zeiten knapper öffentlicher Kassen besonders stark spüren. Ungewöhnlich zu sein, ist in dieser Hinsicht oft ein zweischneidiges Schwert. Initia in potestate nostra sunt, de eventu fortuna iudicat.
[1] Mehr Informationen unter https://uni-goettingen.de/sammlung-stern.
[2] Nachzuverfolgen in den Katalogen und Begleitbänden: Charlotte Trümpler (Hrsg.): Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie, Bern 1999; Charlotte Trümpler (Hrsg.): Flug in die Vergangenheit. Archäologische Stätten in Flugbildern von Georg Gerster, München 2003; Charlotte Trümpler (Hrsg.): Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940), Köln 2008.
[3] Eine von Thomas Tode erstellte Übersicht über Tom Sterns Veröffentlichungen ist verfügbar unter https://www.uni-goettingen.de/de/document/download/21be2bec745a47f60643de383f53dd21.pdf/Bibliografie%20Tom%20Stern.pdf.
[4] Ein Bericht zur Eröffnung und Frühzeit der Sammlung ist erschienen als Martin Lindner: „Hundert Jahre Antike im Dokumentarfilm. Die Sammlung Stern eröffnet im Januar 2019 in Göttingen“. In: Antike Welt 6/2018, S. 52–56.
[5] Als Beispiel siehe Sophia Lindemann / Martin Lindner: „Wissen in Szene setzen. Die Cinarchea-Materialien und das altertumswissenschaftliche Filmarchiv Sammlung Stern“. In: Marie L. Allemeyer u.a. (Hrsg.): Räume des Wissens. Die Basisausstellung im Forum Wissen Göttingen, Göttingen 2022, S. 224–227.
[6] Georg Koch: Funde und Fiktionen. Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert 11), Göttingen 2019.
[7] Heike Behlmer u.a. (Hrsg.): „Semitische Wissenschaften“? Ägyptologie und Altorientalistik im „Dritten Reich“ (Göttinger Orientforschungen – Ägypten 70), Wiesbaden 2025, 91–109.
[8] Martin Lindner: „Die Sammlung Stern. Antike Geschichte und Gegenwart im Medium Film“. In: Lena Heykes u.a. (Hrsg.): Was bleibt? Innovation und Techniken in den Altertumswissenschaften, Göttingen 2025.
[9] Als Teil des sog. „Sammlungsschaufensters“: https://www.forum-wissen.de/sammlungsschaufenster/.