Vergil literaturtheoretisch gelesen
Call for Papers für die Konferenz
vom 14. bis zum 15. März 2024
Die Konferenz zu Vergil, der bereits in der Antike fest zum Literaturkanon zählte, möchte zwei Perspektiven systematisch zusammenführen: Einerseits wird seine ambige und anspielungsreiche Dichtung vor dem Hintergrund aktueller Forschung neu gelesen und interpretiert, andererseits werden die jüngsten literaturtheoretischen Ansätze zur Herausarbeitung und Reflexion der polyvalenten Deutungen und Vielstimmigkeit von Vergils Dichtung fruchtbar gemacht.
Für die Klassische Philologie in Deutschland hat Thomas Schmitz in seinem Einstiegs- und Überblickswerk über „Moderne Literaturtheorie und antike Texte“ (Darmstadt 2002) nicht zu Unrecht festgestellt, dass ein gewaltiger Nachholbedarf vor allem gegenüber der angloamerikanischen Forschung besteht, wobei er besonders auf die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit in den Geisteswissenschaften abzielt. Inzwischen hat die deutschsprachige Forschung erfreulicherweise einen reflektierten Umgang mit modernen Literaturtheorien gefunden, der sich sicherlich mit Gewinn auf die altphilologische Forschung zu Vergil übertragen lässt. Die Konferenz strebt an, vor diesem Hintergrund an Textbeispielen verschiedene literaturtheoretische Ansätze zu erproben und dadurch zu zeigen, welche Theorien wegweisend für die neuere Erforschung von Vergils Dichtung sind. Die Beiträge sollen dabei die heuristischen Potentiale der literaturtheoretischen Perspektiven ausloten. Zu welchen Erkenntnissen können moderne, theoriegeleitete und interdisziplinäre Perspektiven auf antike Texte führen?
Vergils Werk ist für viele literaturtheoretische Ansätze gleichermaßen und schon seit der Antike ein spannendes Experimentierfeld. Vergil beeinflusste wesentlich die lateinische kaiserzeitliche Dichtung und wurde zum Gegenstand christlicher Rezeption und paganer Kommentierung wie z. B. der des Servius, was die hohe Relevanz und Attraktivität von Vergils Gedichten widerspiegelt, die sich in den 1960er-Jahren in kontroversen Debatten um die Zwei- bzw. Mehrstimmigkeit in Vergils Œuvre erneut entzündet hat. Aktuelle Publikationen nehmen immer wieder Fragen nach der Zeitstruktur und Erzählhaltung, nach politischen Positionierungen zwischen Bürgerkrieg und Landvertreibungen einerseits sowie Frieden und Goldenem Zeitalter andererseits oder nach der Herkunft und Identität der Figuren in den Blick. Anhand der Bucolica, Georgica und der Aeneis wird die Konferenz die Gelegenheit bieten, diese und weitere Fragestellungen literaturtheoretisch weiterzuentwickeln, innovative Gedanken zu diskutieren und differenzierte Einblicke sowohl in die aktuellen literaturtheoretischen Entwicklungen als auch in Vergils Werk zu nehmen und zu reflektieren.
Abstracts für Beiträge zu folgenden Theorien oder eigenen Ideen, die sich aus dem close-reading einer Textstelle ergeben, werden erbeten:
- Narratologie:
Die Narratologie beschäftigt sich mit der Erzählstruktur in narrativen Texten wie dem Epos und kann auch für andere literarische Gattungen gewinnbringend angewendet werden. Sie fragt nach der Perspektivierung der Erzählung durch die Diegese, die Fokalisierung, die Raum- und Zeitstruktur und den Modus des Erzählens. Darüber hinaus lässt sich analysieren, welche Bewertungen des Erzählten explizit oder implizit vorgenommen werden. Wie wird z. B. über das Goldene Zeitalter erzählt, wie über Krieg?
- Intertextualität, Rezeptionsästhetik und Transformation:
Wie und mit welchem Ziel spielt Vergil raffiniert auf seine griechischen und lateinischen Vorgänger an oder zitiert sie? Wie und zu welchem Zweck wird sein Œuvre selbst zum Experimentierfeld späterer Transformationen, z. B. in Epen der neronischen und flavischen Zeit oder in christlichen Texten wie Centos und Invektiven? Welche Aussagen erlaubt die antike Vergilrezeption über die Aufnahme- und die Referenzkultur?
- Gender und Queer Studies:
Beide Ansätze analysieren Geschlechtsidentitäten in literarischen Texten. Auch für Vergils Werke erscheint die Frage vor allem nach sozialen und kulturellen Bedingungen für die Performanz von Geschlecht und Sexualität aussichtsreich. Welche Eigenschaften qualifizieren Figuren zu einer Vorbildfunktion für die römische Gesellschaft oder durch welche Figuren wird subtil Kritik an bestehenden Werten suggeriert? Inwiefern wird literarisch eine Transgression bestehender Normen erprobt?
- Orientalismus und Alteritätsdiskurse:
Der Orientalismus ist eine Form des Alteritätsdiskurses, den Edward W. Saïd als eine mentale Operation beschrieb, die den Orient auf eine in sich geschlossene Bühne stellt und ihn dabei mit zumeist stereotypen Bildern verknüpft, um ihn diskursiv zu dominieren. Die Frage nach der Herkunft und nach dem Verhältnis des Römischen zum Fremden spielt besonders in der Aeneis eine wichtige Rolle. Da Vergils Figuren auf die Fluidität der Identität verweisen, stellen sich die Fragen, wie Fremdheit thematisiert wird sowie welche Konflikte und Lösungen angeboten, hinterfragt oder festgeschrieben werden.
- Intersektionalität:
Die Stärken einer intersektionalen Analyse liegen darin, dass sie race bzw. ethnicity (z. B. Stadtrömer, Provinzler, Barbar, Orientale), gender (z. B. Mann, Frau), class (z. B. Patrizier, Plebejer, Bauer, Soldat, Sklave) und ggf. weitere Kategorien wie Alter oder Religionszugehörigkeit im Zusammenhang untersucht. Welche Merkmalsausprägungen bewirken eine Überhöhung und positive Zeichnung einer Figur oder einer gesellschaftlichen Gruppe? Welche Charakteristiken literarischer Figuren führen dagegen zu einer Marginalisierung im Diskurs?
- Diskursanalyse:
Es wird danach gefragt, nach welchen Regeln die zeitgenössischen Diskurse, die Vergil in seinen Gedichten reflektiert, funktionieren. Welche Statusgruppe hat die Diskurshoheit? Welchen Narrativen und Stereotypen folgen die polyphonen literarischen Diskurse? Außerdem: Nach welchen Maßstäben und Werten werden zeitgenössische augusteische Diskurse und Konfliktlösungen (z. B. Heiratspolitik) affirmiert oder kritisch hinterfragt? Oder werden Alternativen dazu angeboten und wie werden diese legitimiert?
- Theorie der memoria und kulturelles Gedächtnis:
Schriftzeichen und Texte bewahren und konstruieren Geschichte und lassen damit auch ihre eigene Gegenwart in einem bestimmten Licht erscheinen. Dadurch, wie Vergangenheit und Gegenwart mit Bedeutung aufgeladen werden, kann in einer gemeinsamen Kultur ein kulturelles Gedächtnis z. B. über gemeinsame Feste, Rituale, Werte und Traditionen ausgebildet werden, das identitätsbildend wirksam sein kann. Wie konstruiert Vergils Dichtung kollektive Werte zwischen Vergangenheitsbezug und zeitgenössischer Identitätsbildung? Darüber hinaus wird nach der Dynamik der Transformation des kulturellen Gedächtnisses gefragt, um auf neue Akzente hinzuweisen, die Vergil dem traditionellen kulturellen Gedächtnis verleiht.
- Raumtheorien:
Mit dem spatial, topographical und topological turn wurde eine kulturwissenschaftliche Wende zum räumlichen Denken vollzogen, die Fragen nach der Einschreibung von Räumen in Texte und umgekehrt aufwirft. Es wird auch zu betrachten sein, wie und mit welchem Ziel Raumbewegung bei Vergil (z. B. die Irrfahrt auf dem Mittelmeer) konzeptualisiert wird und welche Wirkungen die Veränderungen im sozialen oder mythischen Relationsraum (z. B. die Katabasis, der Besuch in Pallanteum) entfalten.
- Bourdieus Kultursoziologie:
Aus Bourdieus Denken ist ein begriffliches Instrumentarium hervorgegangen, mit dessen Hilfe sich auch subtile Formen sozialer Hierarchien und symbolischer Herrschafts-praktiken analysieren lassen. Einflussreiche Schlagwörter der Kultursoziologie von Pierre Bourdieu sind beispielsweise der Habitus und der soziale Raum, in dem sich ein Individuum abhängig von seinem ökonomischen, sozialen, symbolischen und kulturellen Kapitalvolumen relativ positioniert. Wie bauen Figuren in Vergils Dichtung symbolisches Kapital auf? Welche Schwierigkeiten oder Folgen zeigt der Aufbau oder Verlust des symbolischen Kapitals?
- Ecocriticism:
Der Ecocriticism beschäftigt sich interdisziplinär mit der Thematisierung von Ökologie und Nachhaltigkeit (ökologische, ökonomische, soziale, politische und kulturelle Faktoren) in der Literatur, wobei für die Antike vor allem das Verhältnis von Mensch und Natur sowie antike Praktiken in sozioökologischen Zusammenhängen untersucht werden. Im Sinne der jüngst entstandenen antiken Umweltstudien wird kritisch danach zu fragen sein, wie der Mensch durch die Beschreibung, Bearbeitung und Eroberung von sowie Ansiedlung auf Land in seine Umwelt eingreift, wie diese Eingriffe bewertet werden und wie die Natur mit kultureller Bedeutung aufgeladen wird.
- Konfliktforschung und die Umweltstudien:
In der Antike wurden Missernten und daraus resultierende Hungersnöte, Erdbeben, Überschwemmungen, Pest oder Krieg als Prodigien, negative Zeichen des göttlichen Zorns, wahrgenommen. Wie reflektiert Vergil über die übernatürlichen Ursachen für die Entstehung von Konflikten, z. B. wenn göttlicher Zorn oder ein Bruch des Friedens mit den Göttern (pax deorum) als Ursache von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Gesundheitskatastrophen wie der Pest identifiziert werden? In diesem Zusammenhang könnte Vergils Darstellung der religiösen Maßnahmen, um die Götter zu besänftigen oder den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu fördern, analysiert werden.
- Emotionsforschung:
Die Emotionsforschung zeichnet sich ebenfalls durch transdisziplinäre Zugänge aus, wobei vor allem die Kommunikation von und über Emotionen eine zentrale Stellung einnimmt (emotiv-expressive Sprachfunktion). Dass Emotionen auch eine wichtige Rolle bei Entscheidungsprozessen und der Umsetzung von Handlungen spielen, eröffnet vielfältige Perspektiven auf Schlüsselszenen, die einen Plot vorantreiben. Außerdem beeinflussen Emotionen persönliche wie politische Konflikte und Konfliktlösungsstrategien auf der Sprach- und Handlungsebene. Schließlich gibt es seit der Antike auch einen religiösen Diskurs um Emotionen, vor dessen Hintergrund vor allem religiöse Sprache, religiöses Handeln und deren Schnittstelle in den Blick genommen werden können.
- Posthumanismus/Hybridität:
Schließlich ist auch der Posthumanismus wieder ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, die sich mit heterogenen Subjekten beschäftigen, für die die Differenz und das Werden konstitutiv sind. Wie werden Körper zwischen Mensch und Tier sowie Mensch und Maschine literarisch konstruiert? Wie und wozu geht der Mensch essenzielle Verbindungen zu Tieren und Maschinen ein? Welche ontologischen und epistemologischen Grenzen des Menschen lotet Vergil aus?
Die Konferenz richtet sich an Doktoranden, PostDocs sowie erfahrene Altertums-, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Abstracts (ca. 500 Wörter + Bibliographie) für Vorträge in deutscher oder englischer Sprache sind bitte bis zum 25.09.2023 an die Organisatoren Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! und Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zu richten. Rückmeldungen erfolgen bis Mitte Oktober.
Für die Vorträge ist eine Länge von 30 Minuten mit anschließenden 20 Minuten Diskussion vorgesehen. Um die Finanzierung der Reise- und Übernachtungskosten für die Vortragenden werden wir uns bemühen. Wir freuen uns auf die Abstracts und den persönlichen Austausch!
PD Dr. Darja Šterbenc Erker und Marc Korrmann
Institut für Klassische Philologie
Humboldt-Universität zu Berlin