13. Säkularität und Pastoral bei Augustinus von Hippo. Geschichte, Macht, Subjekt.
Kai Preuß, Erlangen
Unser Bruno-Snell-Preisträger 2023 gibt vorab einen Einblick in seine prämierte Arbeit.
Jüngere Ansätze zur Erforschung der religiösen Verschiebungen der Spätantike eint der Versuch, das Bild einer mehr oder minder linearen Überwindung des Heiden- durch das Christentum durch andere Konzepte zu ersetzten. Zu diesen Konzepten gehört auch die „Säkularität“, also die Vorstellung, dass es in einer Gesellschaft religiös bedeutsame (sakrale oder profane) und nicht-bedeutsame (säkulare) Räume gibt, wobei letztere als religiös neutral oder ambivalent erscheinen können. Wer nach Säkularität fragt, versucht den Blick weg vom Konflikt von Glaubenssystemen hin zur Rolle von Religion in der antiken Gesellschaft zu lenken. Es geht dann darum, die Veränderungen herauszuarbeiten, die mit der Verbreitung, schließlich gesellschaftlichen Akzeptanz und politischen Förderung des Christentums im Verhältnis von Religion und Gesellschaft aufgetreten sind. Dabei zeigt sich, dass es bei den zeitgenössischen Auseinandersetzungen immer auch um die Reichweite des Religiösen ging, um die Frage, wo überhaupt religiöse Relevanz geltend gemacht werden kann, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Bischöfen und Kaisern (oder ihren Vertretern).
Die 2020 in Frankfurt verteidigte und 2022 erschienene Dissertation greift den von Robert Markus ins Spiel gebrachten Begriff der Säkularität auf und unterzieht ihn einer auf die Religionssoziologie Niklas Luhmanns gestützten Neufassung. Demnach handelt es sich bei Säkularität nicht um eine Eigenschaft bestimmter Objekte oder Institutionen, sondern um die Weise, wie das Religionssystem die relative Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ihrer Umwelt wahrnimmt, ohne sie als Sünde (mithin religiös) abzuwerten. Mit dieser Begriffsfassung ist die These verbunden, dass das antike Christentum zwar theologische Weltbeschreibungen mit universalem Anspruch entwickelt hat, dass es aber dennoch – und zwar aus religiöser Perspektive – Bereiche gibt, die sich einer christlichen Einordnung (vorerst) entziehen. Der betont abstrakte Zugriff dient nicht zuletzt dazu, den Begriff des Säkularen von der bisweilen wertenden Verbindung mit klassischen Bildungsgütern oder der mediterranen Stadtkultur zu lösen.
Am Beispiel Augustins von Hippo untersucht die Arbeit, wo und wie die Grenze zum Säkularen gezogen wird und inwiefern sich diese Grenzziehung als Teil einer religiös motivierten Strategie auf Seiten des Bischofs verstehen lässt. Die Unterscheidung religiös bedeutsamer von nicht bedeutsamen Räumen ist, wie in der Forschung bereits festgestellt wurde, nicht voraussetzungslos und kann auf ihre Motive hin befragt werden. Um die dabei vom Bischof ausgeübte Macht von anderen, insbesondere politischen Formen der Herrschaft abzuheben, wird mit dem Begriff der „Pastoralmacht“ eine weitere Theorieanleihe ins Spiel gebracht. Der Anschluss an Michel Foucault erlaubt es auch, Phänomene der „Subjektivierung“, also der diskursiven Gestaltung von Selbstverhältnissen, die sich bei Augustinus reichlich finden, als Teil der Charakteristik pastoraler Führung angemessen zu erfassen.
Nach der Darlegung dieser theoretischen Grundlagen wendet sich das zweite Kapitel der vielbehandelten Auseinandersetzung Augustins mit der römischen Geschichte im Rahmen von de civitate Dei zu, um zu zeigen, wie hier gerade mit der theologischen Abwertung des Imperium Romanum als einer bloß weltlichen Institution eine pastorale Strategie verfolgt wird. Teils wird diese Strategie als Trost und Beschwichtigung greifbar, teils als kalkulierte Irritation eines auf die enge Kopplung von Frömmigkeit und diesseitigem Erfolg gegründeten Weltbildes. Die Säkularität weiter Teile der politischen Geschichte wird als Element eines theologischen Entwurfs erkennbar, der gerade durch den Verzicht auf die heilsgeschichtliche Einbindung römischer Institutionen den Gläubigen auf sein Verhältnis zur Welt zurückwirft, ein Verhältnis, das er, von der pastoralen Fürsorge des Bischofs betreut, stets kritisch zu hinterfragen hat.
Das nächste Kapitel verfolgt die pastoralen Grenzziehungen durch zwei andere Bereiche: zunächst die Familie und das persönliche Umfeld, zu dem sich Augustinus in Predigten ausführlicher äußert und das er zwar nie grundsätzlich abwertet, immer aber als Gefahr inszeniert, als Quelle von schlechten Einflüssen und Verführung zu innerweltlicher Orientierung; die grundsätzliche religiöse Neutralität der Familie bekommt eine Ambivalenz, an der pastorale Ermahnungen ansetzten können. Darauf folgt eine Untersuchung der Passagen zur Vergewaltigung heiliger Jungfrauen während der Plünderung Roms (civ. 1,16-29), die vor allem das Interesse der historischen Frauenforschung gefunden haben. Dagegen wird hier als zentrales Problem die fehlende Mitteilbarkeit des Gewissens herausgearbeitet. Es lässt sich zeigen, dass Augustinus zwar durchaus in tröstender Absicht darauf bedacht ist, die betroffenen Frauen von jeglicher Mitschuld freizusprechen, dass er dabei aber die entscheidende Beweislast auf das je individuelle Gewissen abwälzt. Da sich die religiöse Integrität des Gewissens aber niemals vollständig kommunizieren lässt (vielmehr muss es durch einen angemessen Habitus auf sich verweisen), kommt auch dem Gewissen eben jene Ambivalenz zu, die für das Säkulare bei Augustinus kennzeichnend ist.
Das letzte, vierte Kapitel widmet sich den Beamtenbriefen Augustins: zuerst als Ort der Artikulation von Säkularität gegenüber weltlichen Autoritäten, sodann als primäre Quelle für Augustins Strafverständnis. Eine detaillierte Analyse einschlägiger Briefe zeigt, dass Augustinus wohlkalkuliert mit der Unterscheidung religiöser und staatlicher Sphären arbeitet. Er redet keiner Christianisierung der Verwaltung das Wort, wohl aber versucht er, die Person des jeweiligen Amtsträgers auf ihre Christlichkeit zu verpflichten und so Einfluss auf die Verwendung weltlicher Machtmittel zu nehmen. Dass Augustinus diese Machtmittel aber im Rahmen einer rein pastoral motivierten Straflogik einzusetzen gedenkt, zeigt der zweite Teil des Kapitels. Das hat auch Folgen für die Einschätzung seiner Haltung zu religiösem Zwang. Weil das Verhältnis von Bischöfen und kaiserlicher Administration bei Augustinus Teil einer religiösen Weltbeschreibung ist, entfällt das Problem, seine Befürwortung imperialer Gewaltmittel in der Donatistenkontroverse (einem schismatischen Konflikt im Nordafrika des 4. und frühen 5. Jh.s) als Grenzüberschreitung, Ausrutscher oder Ergebnis einer veränderten Haltung gegenüber dem Imperium zu deuten. Sie ist schlicht ultima ratio einer pastoralen Praxis.
Die abschließenden Betrachtungen laden dazu ein, die komparatistischen Möglichkeiten eines abstrakteren, differenztheoretischen Säkularitätsbegriffs zu erkunden. So wird man mit Blick auf die Problematik der coercitio wohl vor allem die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen verschiedener Säkularitäten vergleichen müssen; was bei Augustinus als säkular aufscheint, schützt jedenfalls nicht vor religiösem Zwang.