Überlegungen zu einem medizinhistorischen Postulat
Fabian Neuwahl, Köln
In einem kurzen Artikel im Gesnerus argumentierte der Celsus-Experte Philippe Mudry im Jahr 1980 dafür, dass er in Celsus’ Proöm (Cels. 1 pr 73) einen besonderen Zug der römischen Medizin ausgemacht habe: Im Gegensatz zur griechischen Medizin werde die Tatsache, dass der Arzt als amicus des Patienten auftritt, als Wert an sich geschätzt, was als kulturelles Erbe der traditionellen pater familias-Medizin einzuschätzen sei. Aufgrund seiner prominenten Stellung im Proöm handle es sich hierbei um eine programmatische Aussage des Celsus. Die These des medicus amicus als Besonderheit der römischen Medizin wurde von Mudry in den folgenden Jahrzehnten mehrfach aufgegriffen und fand ebenso Niederschlag im letzten großen Beitrag zur Celsus-Forschung von Aurélien Gautherie (2017, 338f. Hervorhebung FN):
„La médecine présentee par Celse dans le De medicina nous paraît donc insister, au-delà des différents individus, sur la singularité de la personne affectée par la maladie. L’attachement profond qui unit le praticien et le malade repose sur la reconnaissance en autrui d’un alter ego. De cette reconnaissance naît idéalement une amitié fondée sur la confiance (fides)…“
Im Folgenden möchte ich anregen, diese stark normative Deutung des Proöms und damit auch die Einschätzung der Rolle des römischen medicus zu überdenken. Zunächst eine einleitende Bemerkung: Wenngleich Werner Golder (2019, 19) zu Recht eine Diskrepanz zwischen den Proömien und dem übrigen Corpus festgestellt hat, dürften wir dennoch erwarten, dass der medicus amicus nach Mudrys programmatischer Deutung zumindest stellenweise im weiteren Verlauf des Werkes aufscheinen würde. Stattdessen finden sich Aussagen, die gerade nicht von einem vertieften Interesse am Individuum zeugen – bekannt ist Celsus’ Forderung an den guten Chirurg, der sich nicht von den Schreien des Patienten erweichen lassen soll (Cels. 7 pr. 4), aussagekräftig ebenso die Behandlung der Hydrophobie in Cels. 5,27,2c:
Sed unicum tamen remedium est, neque opinantem in piscinam non ante ei provisam proicere. Et si natandi scientiam non habet, modo mersum bibere pati, modo attollere: si habet, interdum deprimere, ut invitus quoque aqua satietur: sic enim simul et sitis et aquae metus tollitur.
Aber dennoch ist dies das einzige Heilmittel: den nichtsahnenden Patienten in ein Becken zu werfen, das er vorher nicht gesehen hat. Und wenn er nicht schwimmen kann, ihn bald unter Wasser gedrückt trinken zu lassen, ihn bald hinauszuheben: wenn er schwimmen kann, ihn eine Zeit lang herunterzudrücken, damit er auch gegen seinen Willen durch das Wasser gesättigt wird: so nämlich wird zugleich sein Durst und seine Furcht vor dem Wasser beseitigt.
Stellen wie diese (und das Nichtvorhandensein weiterer Belegstellen des medicus amicus) lassen aufhorchen, sodass ein erneuter Blick auf das erste Proöm angebracht erscheint. Eine Gliederung findet sich bei Christian Schulze (2001, 36):
§ 1–11: Medizinhistorischer Rückblick im engeren Sinne
12–26: Schule der Dogmatiker
27–44: Schule der Empiriker
45–53: Celsus’ eigener Standpunkt zur Rolle von Theorie und Praxis
54–73: Schule der Methodiker
74–75: Schluss, Celsus’ eigener Standpunkt zur Vivisektion
Der besagte Passus findet sich demnach am Ende von Celsus’ Argumentation gegen die medizinische Tradition der Methodiker, die von drei Krankheitsursachen ausgehen, dem status strictus, laxus und mixtus. Gegen diese Vorstellung der communia spricht sich Celsus dezidiert aus (Cels. 1 pr. 71–73):
71 Qui<n> etiam morborum in isdem hominibus aliae atque aliae proprietates sunt; et qui secundis aliquando frustra curatus est, contrariis saepe restituitur.
72 Plurimaque in dando cibo discrimina reperiuntur, ex quibus contentus uno ero. Nam famem facilius adulescens quam puer, facilius in denso caelo quam in tenui, facilius hieme quam aestate, facilius uno cibo quam prandio quoque adsuetus, facilius inexercitatus quam exercitatus homo sustinet: saepe autem in eo magis necessaria cibi festinatio est, qui minus inediam tolerat.
73 Ob quae conicio eum, qui propria non novit, communia tantum debere intueri; eumque, qui nosse proprietates potest, non illas quidem oportere neglegere, sed his quoque insistere; ideoque, cum par scientia sit, utiliorem tamen medicum esse amicum quam extraneum.
71 Ja, es gibt sogar bei denselben Menschen immer wieder neue Eigenheiten von Krankheiten; und wer bisweilen mit eigentlich hilfreichen Mitteln vergeblich behandelt wurde, wird oft durch ihr Gegenteil wieder gesund.
72 Die meisten Unterschiede findet man bei der Gabe von Nahrungsmitteln, wobei ich mit einem Beispiel zufrieden sein will. Denn Hunger erträgt ein Mensch leichter als junger Mann denn als Knabe, leichter in einem drückenden als in einem luftigen Klima, leichter im Winter als im Sommer, leichter, wenn er an eine Mahlzeit als an ein zweites Frühstück gewöhnt ist, leichter, wenn er untrainiert als wenn er trainiert ist: oft ist nun bei dem eine rasche Bereitstellung des Mahles erforderlicher, der das Fasten weniger erträgt.
73 Deshalb folgere ich, dass derjenige, der die Eigentümlichkeiten (des Patienten) nicht kennt, allein die Allgemeinheiten betrachten muss; dass der, der die Eigentümlichkeiten kennen kann, zwar jene nicht vernachlässigen darf, aber auch auf diese Nachdruck legen soll; und dass deshalb, auch wenn das Fachwissen gleich ist, ein Arzt dennoch als Freund denn als Fremder größeren Nutzen bringt.
Argumentativ wendet sich Celsus gegen die communia der Methodiker mithilfe eines Verweises auf die Eigenheiten (proprietates) von Krankheiten, die sogar bei ein und demselben Menschen auftreten können (Abschnitt 71). Als Beispiel nennt er den Hunger (in Verbindung mit der ärztlichen Verordnung von Speisen), der vor dem Hintergrund eines Wechselspiels von klimatischen, körperlichen und diätetischen Faktoren unterschiedlich ertragen wird (Abschnitt 72). Im Abschnitt 73 werden zunächst zwei Arten von Ärzten unterschieden, nämlich derjenige, der die proprietates nicht kennt (propria non novit), und derjenige, der sie kennen kann (nosse proprietates potest). Ersterer muss sich auf die communia verlassen, ist aber dadurch in seiner ärztlichen Praxis beschränkt. Letzterer soll die propria als Ergänzung, nicht als alleiniges Fundament seines Handelns verwenden. Was beide Personengruppen teilen, ist demnach das Wissen über die communia, was sie unterscheidet ist das Wissen über die propria.
Wenn nun im folgenden Satz, der für Mudrys Deutung zentral ist, zu lesen ist, dass ein medicus amicus utilior ist, sofern eine scientia par (der communia) vorliegt, müssen wir die Aussage vor diesem Hintergrund anders auffassen: Der Arzt als Freund wird damit nicht zum normativen Ideal aufgrund seiner „sensibilité à la nature profonde du malade“ (Mudry 1980, S. 19), sondern Celsus stellt lediglich (äußerst knapp) fest, dass Freunde einen erleichterten Zugang zu den propria haben. Anders als ein wandernder Arzt kann der Freund wissen (vgl. oben nosse potest), welche Gewohnheiten der Patient hat, und wird daher als Beispiel ausgewählt. Daraus folgt, dass der freundschaftlichen Beziehung (zumindest von Celsus) im Zusammenhang kein Wert an sich zugeschrieben wird, sondern der eigentliche Wert des Freundesstatus für die ärztliche Behandlung sich durch die größere Menge an Wissen bestimmt, auf die jener Zugriff hat.
Die These, das freundschaftliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient sei ein besonderer Wesenszug der römischen Medizin und ein Wert an sich, ist daher zu überdenken. Zwar wurden von Mudry auch andere Passus angeführt (Scribonius Largus, Seneca), doch beruht deren jeweilige Deutung stets auf derjenigen des Celsus-Proöms.
Sekundärliteratur
- Gautherie, A.: Rhétorique et thérapeutique dans le De medicina de Celse, Turnhout 2017.
- Golder, W.: Celsus und die antike Wissenschaft, Berlin/Boston 2019.
- Mudry, P.: Medicus amicus: un trait romain dans la médecine antique, in: Gesnerus 37/1-2 (1980), 17–20.
- Schulze, C.: Celsus, Hildesheim/Zürich/New York 2001.