4. Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr.
Die Folgen der Corona-Pandemie beraubten unseren diesjährigen Bruno-Snell-Preisträger der Möglichkeit, seine prämierte Arbeit auf der Großen Mommsen-Tagung vorzustellen. Dies wird er im Juni 2022 in Köln nachholen. Hier schon einmal ein erster Einblick.
Im klassischen Athen kursierten vergleichsweise konkrete Vorstellungen zur eigenen Frühzeit: Der athenische König Theseus hätte ganz Attika in einem ›Synoikismos‹ vereint (Thuk. 2, 15, 1 f.). Im mittleren 11. Jh. v. Chr. sei das Königtum zugunsten eines ›Archontats auf Lebenszeit‹ abgeschafft worden, dieses dann 753 v. Chr. auf zehn Jahre verkürzt sowie schließlich 683/682 v. Chr. in ein jährlich neu besetztes Amt umgewandelt worden. Diese Entwicklung ist bereits lange als ein Konstrukt klassischer Zeit erkannt, das wenig über die tatsächlichen Verhältnisse aussagt. Generell lässt sich anhand der schriftlichen Quellen für den Zeitraum vor dem 6. Jh. v. Chr. kein sonderlich komplexes Bild der Geschichte Athens und Attikas zeichnen: Die Überlieferung vom Putschversuch des Kylon hat zwar sicherlich einen wahren Kern, doch ist ihre bei Herodot und Thukydides überlieferte Form (Hdt. 5, 71; Thuk. 1, 126, 3–11) Verhältnissen und Erwartungen der klassischen Zeit verpflichtet; auch das traditionelle Datum um 630 v. Chr. ist aufgrund seiner Abhängigkeit von späteren chronologischen Konstruktionen wenig verlässlich. Ähnliches gilt für das Gesetz des Drakon, das zwar als frühester erhaltener Ausschnitt der athenischen Rechtsprechung von großem Wert ist, je nach Lesweise jedoch ganz unterschiedliche Rückschlüsse auf den Institutionalisierungsgrad in früharchaischer Zeit zulassen kann. Selbst die auf den ersten Blick verlässlich anmutenden Narrative im Zusammenhang mit Solon erscheinen seit Zweifeln an der solonischen Urheberschaft der ›solonischen‹ Gedichte und Gesetze problematisch. Wer sich an einer Rekonstruktion jener längerfristigen gesellschaftlichen Formierungsprozesse versuchen möchte, die in Athen und Attika in der frühen Eisenzeit und der früharchaischen Zeit, also im 11. bis frühen 6. Jh. v. Chr. anzunehmen sind, muss sich demnach den archäologischen Quellen zuwenden. Eben diese stehen im Zentrum der hier vorgestellten Arbeit, die 2019 als Dissertation im Fach Klassische Archäologie an der Universität Tübingen abgeschlossen wurde und Ende September 2021 erscheinen wird.
Einen ersten Schwerpunkt des Buchs stellt die Siedlungsgeschichte dar; dafür wird ein geographisch gegliederter Überblick über die publizierten Befunde gegeben. Auf dieser Grundlage wird die Siedlungsstruktur kleinräumig analysiert und die Besiedlungsgeschichte diachron ausgewertet. Dabei zeichnet sich ab, dass der erste Teil der frühen Eisenzeit auch aufgrund von Problemen der archäologischen Sichtbarkeit schwer zu fassen ist, doch bereits im späten 10. Jh. v. Chr. ganz Attika besiedelt ist und die folgenden Jahrhunderte eine sukzessive Verdichtung erkennen lassen. Dem Konzept einer von ihrem vermeintlichen Zentrum ausgehenden ›Binnenkolonisation‹ Attikas kann dabei die These kleinteiliger dezentraler Verdichtungsvorgänge entgegengesetzt werden.
Im Anschluss werden die Nekropolen und die Heiligtümer diachron auf Indizien gesellschaftlicher Transformationsprozesse befragt. Die kontinuierlich hohe Variabilität in den Gräbern spricht für eine fortgesetzte Konkurrenz von Bestattungsgruppen mit variierenden repräsentativen Strategien sowie eine große Instabilität der beständig neu ausgehandelten gesellschaftlichen Vorrangstellungen. Schwankungen in der Zahl der überlieferten Gräber erlauben keine direkten Rückschlüsse auf die ›Entstehung der Polis‹, sondern sind ein Resultat der wechselnden Popularität größerer Friedhöfe in Athen. Die wachsende Bevorzugung gemeinschaftlich genutzter Nekropolen spätestens ab dem frühen 8. Jh. v. Chr. und die damit einhergehende Veränderung der repräsentativen Strategien lassen dennoch Rückschlüsse auf ein zunehmendes Gemeinschaftsbewusstsein sowie eine beginnende Festigung sozialer Prominenzrollen zu. Die Analyse der Gräber trennt den Untersuchungszeitraum somit grob in eine Phase der stärkeren gesellschaftlichen Fragmentierung im 11.–9. Jh. v. Chr. und eine Periode der wachsenden soziokulturellen Verbindungen ab dem 8. Jh. v. Chr. Ganz ähnliche Entwicklungen lassen die Heiligtümer erkennen: Die früheren Kultstätten fungierten wohl als neutrale Versammlungsplätze in der weiteren Umgebung siedelnder Gruppen. Im 8. und 7. Jh. v. Chr. entstanden dagegen vielerorts Heiligtümer, die klarere und kleinere ›Einzugsbereiche‹ besaßen und damit einerseits der Ausbildung territorial definierter Gemeinschaften und andererseits der sozialen Differenzierung innerhalb dieser dienten. Dies bezeugen aufwändige Votive und Reste gemeinschaftlicher Feste, während u. a. das Aufkommen vieler simpler Votive in der 2. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. die aktive Partizipation größerer Personengruppen wahrscheinlich macht.
Zuletzt werden die Einzelergebnisse der Arbeit miteinander in Beziehung gesetzt. Es entsteht das Bild einer zwar ab dem 8. Jh. v. Chr. beschleunigten, doch letztlich kontinuierlichen Entwicklung, innerhalb derer die früharchaische Zeit eine entscheidende Formationsphase darstellt. Die Vorstellung einer ›Entstehung‹ der athenischen Polis im 8. Jh. v. Chr. dagegen ist irreführend.
Maximilian Rönnberg
M. F. Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse, Tübinger Archäologische Forschungen 33 (Rahden 2021).