5. Antike Medizingeschichte: Warum wir keine Steine finden
Im Hippokratischen Eid heißt es, dass ein Arzt diejenigen nicht schneiden solle, die an Steinen leiden (λιθιῶντας, Hippokr. Iusiur. 5). Seit jeher wird in der Forschung kontrovers diskutiert, ob hippokratische Ärzte gar nicht operiert und sich nur für die verborgenen, inneren Krankheiten zuständig gefühlt haben. Außer Frage steht indessen, dass es sich bei dem Steinleiden um Blasensteine gehandelt hat. Für Plinius (23/24–79 n.Chr.) war es die schlimmste aller Krankheiten (Plin. Nat. Hist. XXV 23), weil sie unerträgliche Schmerzen mit sich brachte. Aulus Cornelius Celsus (um 25 v.Chr.–50 n.Chr.) beschreibt ausführlich das Procedere des sogenannten Steinschnittes (Cels. VII 26,2).
Dass jeder einen eigenen Blick auf die Quellen hat, wurde mir wieder bewusst, als ich den Eid mit meinem Vater diskutierte. Als Chirurg dachte er bei den λιθιῶντες an Patienten, die nicht an Blasen-, sondern an Gallensteinen litten. Es stand die Frage im Raum, wie die antike Medizin vor Bildgebung, Antisepsis und Narkose diagnostisch und therapeutisch mit Gallensteinleiden umgegangen war. Nach Konsultation der einschlägigen medizinhistorischen Forschung stellte sich jedoch schnell heraus, dass schon allein die Kenntnis von Gallensteinen an sich nicht verbreitet war, geschweige denn eine chirurgische Therapie.
Für die gesamte griechisch-römischen Antike gibt es keinen literarischen Beleg für die Kenntnis von Gallensteinen beim Menschen (Ursin et al. 2018). Zwar kannte Aristoteles (384–322 v.Chr.) in Analogie zu Nierensteinen in geschlachteten Opfertieren auch Steine in Galle oder Magen (Arist. PA IV,2 667a35-667b7 p. 71-72 Kullmann), es dauerte aber bis zu Alexander von Tralleis (um 525–605), dass der Satz geschrieben wurde: „Wenn die Säfte zu sehr eingetrocknet und übermäßig ausgedörrt sind, so liegen sie in der Geschwulst wie Steine […].“ (Alex. Trall. 384 Puschmann). Zwischen Aristoteles und Alexander gab es zahlreiche Andeutungen und Vermutungen innerhalb der medizinischen Fachliteratur, die im galenischen Krankheitsbild der Leberverstopfung mündeten (Galen De locis affectis II 9,16 Gärtner).
Die Verstopfung der Leber durch Koagulation von Gallensaft wird von Galen (129–um 216) in Analogie zu seiner Theorie über die Entstehung von Nierensteinen erörtert, die er sich als über längere Zeit verdickte Säfte vorstellt (Galen De locis affectis I 1,28 Gärtner). Die Leberverstopfung beschreibt er genauer (Galen De sanitate tuenda 1,13 = 4,1,70-71 Kühn):
„[…D]ie Schwäche der ganzen an der Leber liegenden Blase oder der von ihr in die Eingeweide führenden Mündungen und der in die Därme führenden Wege kann plötzliches Übelsein hervorrufen […]. Die Verengung ist Folge von Entzündung oder Verhärtung, Verstopfung oder Druck von der Umgebung oder Verschluss der Öffnung. Der Druck von der Umgebung her kann durch die übermäßige Menge des Inhalts oder durch Entzündung oder Verhärtung entstehen, wie auch der Verschluss eben dadurch und durch Trockenheit.“ (Übers. v. Beintker 1939, S. 51-52)
Diese ätiologischen Überlegungen müssen vor dem Hintergrund humoralpathologischer Vorstellungen verstanden werden. Tatsächlich sind sie nah an der modernen Erklärung, dass sich Gallensteine durch übersättigte Gallensäfte an Kristallisationskeimen in Gallenblase oder -gängen bilden. Übrigens ist die Welt der Gallensteine nicht nur schmerzhaft, sondern auch überraschend bunt: Cholesterolsteine (90% aller Steine) sind mit ihrem großen Anteil an Calciumcarbonat zwar eher hell, die Pigmentsteine aus Bilirubin changieren aber zwischen schwarz, grün, gelb und braun.
Machen wir es kurz: Griechen und Römer kannten zwar die Symptome von Gallensteinleiden, die sie ätiologisch auf eine mechanische Obstruktion der Gallengänge zurückführten und schließlich Leberverstopfung nannten, aber Gallensteine kannten sie nicht. Litten Griechen und Römer etwa nicht wie wir heute an Gallensteinen? Erst in der Renaissance tritt Johannes Kentmann (1518–1574) als Erster mit einem eigenen Steinbuch hervor, in welchem er auch Gallensteine beschreibt und abbildet (Abbildung 1 und 2).
Abbildung 1 und 2: Johannes Kentmann: Calculorum, qui in corpore ac membris hominum innascuntur, genera XII. Tiguri 1565, fol. 5v und 6v. URL: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ucm.5326978548&view=1up&seq=20
Der Medizinhistoriker Rudolph Siegel hatte vermutet, dass Gallensteine in der Antike schlicht seltener waren als heute (Siegel 1968, S. 252f.). Er begründet dies damit, dass Gallensteine typischerweise bei älteren Menschen auftreten und in der Antike den Meisten ein früher Tod beschieden war. Außerdem gebe es genetische Faktoren, und die Diät ärmerer Griechen und Römer sei schlicht gesünder als die der heutigen Zeitgenossen gewesen. Galen hätte außerdem – wenn überhaupt – für post mortem sectiones nur Zugang zu Leichnamen ärmerer Menschen gehabt.
Wir wissen, dass menschliche Leichname in der Antike höchst selten obduziert wurden und wenn, dann hatten die Berichte darüber (und über Vivisektionen) die Funktion abschreckender Schauergeschichten (Cels. prooem. 23-25). Die Kenntnis der menschlichen Anatomie wurde stattdessen überwiegend per Analogie zur Anatomie von Affen und Schweinen erschlossen. Die Zurückhaltung gegenüber post mortem sectiones erklärt sich auch durch das religiöse Tabu, die Integrität des menschlichen Leichnams nach dem Tod nicht zu beeinträchtigen. Wir haben es also mit einem epistemologischen Problem zu tun: Weil niemand nachgeschaut hat, hat auch niemand etwas gefunden.
Die diskutierten Quellen und Spekulationen bringen uns vorerst nicht weiter, doch glücklicherweise ist die antike Medizingeschichte mehr als die Literaturgeschichte medizinischer Fachtexte. Haben Archäologinnen und Archäologen vielleicht in Gräberfeldern Gallensteine gefunden? Der Blick in die paläopathologische Fachliteratur ließ mich enttäuscht zurück: Lediglich fünf Individuen im Mittelmeerraum werden beschrieben, bei denen etwa durch röntgenologische Untersuchungen Gallensteine festgestellt wurden, darunter übrigens auch die älteste bekannte Feuchtmumie: Ötzi war Träger von Gallensteinen. Die anderen Funde wurden in einem mykenischen Grab und in drei ägyptischen Mumien gemacht. Was diese Funde verbindet ist, dass sie entweder in situ gefunden wurden oder Körperbestattungen darstellten.
Als ich die Ergebnisse meiner Forschungen 2017 auf einer Tagung des internationalen Arbeitskreises Alte Medizin in Mainz vorstellte, meldete sich nach meinem Vortrag ein ausgewiesener Archäologe. Er berichtete von umfangreichen Funden von Gallensteinen bei seinen letzten Grabungen auf Kreta. Aber wie habt ihr sie gefunden, fragte ich. Seine Antwort verwies auf das eben erwähnte epistemologische Problem: Man habe auch nach Gallensteinen gesucht. Den Arbeiterinnen und Arbeitern wurde ein klimperndes Gläschen voll mit den entsprechenden Steinen als Muster präsentiert und anschließend wurden sie auch gefunden. Tatsächlich ist es nicht leicht, nach den in der griechisch-römischen Antike weitaus häufigeren Feuerbestattungen unter den Überresten auch Gallensteine zu finden. Frei nach Matthäus (7,8): Wer Gallensteine sucht, der findet sie.
Zitierte Literatur und Quellen
Beintker, Erich: Die Werke des Galenos. Bd. 1. Galenos Gesundheitslehre Buch 1-3. Stuttgart 1939.
Galenus; Gärtner, Florian (Hg.). Galeni De locis affectis I–II: Edidit, in linguam Germanicam vertit, commentatus est. Berlin, Boston 2015.
Puschmann, Theodor: Alexander von Tralles. Original-Text und Übersetzung nebst einer einleitenden Abhandlung. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin. 2 Bde. Amsterdam 1878–1879.
Siegel, Rudolph E.: Galen’s system of physiology and medicine. Basel 1968.
Ursin, Frank; Steger, Florian: Gallensteine und “Leberverstopfung“ in den medizinischen Fachschriften der Antike. In: Zeitschrift für Gastroenterologie 56(3), S. 249–254. https://doi.org/10.1055/s-0043-120349
Dr. Frank Ursin
Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
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