7. Max Weber, der Pergamonaltar und die Herrschaftsauffassung der Attaliden
Vor einhundert Jahren erschien mit dem Band „Wirtschaft und Gesellschaft“ das postume Hauptwerk des Heidelberger Gelehrten und Professors für Nationalökonomie, Max Weber (1864–1920). In diesem Zusammenhang unterschied Weber zwischen drei Typen der Herrschaftslegitimation: So beruhe eine `legale Herrschaft´ „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“. Demgegenüber basiere `traditionale Herrschaft´ „auf […] von jeher geltenden Traditionen“. Die „Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft einer Person“ schließlich bilde die Grundlage `charismatischer Herrschaft´. Kennzeichnend sei dabei im Gegensatz zu den beiden anderen Typen vor allem eine „außeralltägliche“ Begründung des Charismas, etwa durch die Bewährung des Machthabers in einer Krisensituation wie insbesondere im Krieg beziehungsweise durch seine Annäherung an die göttliche Sphäre. In der Folgezeit wurde vor allem die Kategorie der charismatischen Herrschaft in der althistorischen Forschung verwendet, um spezifische Merkmale der hellenistischen Monarchien sowie des römischen Prinzipats zu beschreiben[1]. Die nachstehenden Überlegungen sollen vor diesem Hintergrund aufzeigen, inwiefern sich aus der Weber´schen Typologie auch in Hinblick auf die archäologische Überlieferung eine gewinnbringende Perspektive entwickeln lässt. Als Beispiel bietet sich in diesem Zusammenhang ein Monument an, dessen politischer Charakter in der jüngeren Forschung grundsätzlich unumstritten ist und das aufgrund von Umfang und Komplexität seiner Bildsprache zugleich optimale Voraussetzungen für eine entsprechende Untersuchung bietet: der Pergamonaltar[2].
Abb. 1 Pergamonaltar. Rekonstruktion der westlichen Front im Berliner Pergamonmuseum (Foto: wikipedia / Jan Mehlich CC BY-SA 3.0).
Der wohl in den Jahren zwischen 180 und 160 v. Chr. unter dem König Eumenes II. errichtete Pergamonaltar bildet seit seiner Entdeckung ein herausragendes Beispiel für die hellenistische Kunst im unmittelbaren Umfeld eines machtpolitisch ambitionierten Herrscherhauses. Dabei standen seit jeher insbesondere die beiden an dem Monument angebrachten Friese im Zentrum des Interesses. Während den monumentalen Sockel eine umlaufende Darstellung der Gigantomachie zierte, zeigt ein ursprünglich im Inneren angebrachter kleinerer Fries die Taten des mythischen Heros Telephos (Abb. 1). Die auffällige Diskrepanz, die für die beiden Friese des Monuments vor allem in Stil und narrativer Struktur kennzeichnend ist, wurde von der archäologischen Forschung schon früh beobachtet und seither vielfach beschrieben. Charakteristisch für den großen Fries sind die markante Relieftiefe, die die überlebensgroßen Figuren annähernd rundplastisch erscheinen lässt, sowie Stilformen, deren Dynamik und Pathos häufig als typische Merkmale hochhellenistischer Skulptur angeführt werden (Abb. 2). Das Relief des Telephosfrieses ist demgegenüber auffallend flach, die Figuren deutlich unterlebensgroß, die Darstellung in der Verwendung von Landschaftsangaben und Attributen hingegen teilweise deutlich detaillierter (Abb. 3). Darüber hinaus zeichnen sich beide Friese durch eine unterschiedliche narrative Struktur aus: Während der Kampf der Götter gegen die Giganten im Großen Fries als ein einziges synchrones Geschehen visualisiert wird, erzählt der Telephosfries die Vita des Heros in zahlreichen aufeinander folgenden Episoden. Die Archäologie hat für die hier skizzierten Eigenheiten der beiden Friese unterschiedliche Erklärungen gefunden. So wurden die markanten Unterschiede in der älteren Forschung vor allem als Ausdruck einer stilistischen Entwicklung verstanden. Der weiter unten am Bau und mithin zu einem früheren Zeitpunkt gestaltete Gigantomachiefries spiegelt dieser Auffassung nach Stilformen der hochhellenistischen Zeit, während für den wohl ein bis zwei Jahrzehnte jüngeren Telephosfries bereits eine als typisch späthellenistisch empfundene Formensprache verwendet worden sei. Erst in jüngeren Arbeiten konnte sich demgegenüber die Auffassung durchsetzen, dass sich die Divergenzen nicht primär autonomen stilgeschichtlichen Entwicklungstendenzen verdanken, sondern vielmehr unmittelbar mit den unterschiedlich gelagerten Themen der beiden Friese zu verbinden sind und sich somit als integraler Bestandteil der Bilder erklären lassen.
Abb. 2 Pergamonaltar, Gigantomachiefries. Zeus im Kampf gegen drei Giganten, am linken Bildrand die Löwentatze vom Umhang des Herakles (Foto: © Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius).
Im vorliegenden Zusammenhang erscheint nun auffällig, dass die unterschiedlichen Bildthemen der beiden Friese unmittelbar mit zwei der drei von Weber definierten Typen von Herrschaftslegitimation korrespondieren. Auf der einen Seite steht dabei die martialische Auseinandersetzung zwischen Göttern und Giganten, die sich bereits in thematischer Hinsicht unschwer als Spiegelbild des von Weber beschriebenen Typus charismatischer Herrschaftslegitimation verstehen lässt, dem ein gänzlich „außeralltägliches“ Geschehen zugrunde liegt. Auf der anderen Seite steht die Legitimation von Herrschaft durch Bezugnahme auf traditionale Strukturen, im vorliegenden Fall unter Verweis auf die Abkunft der attalidischen Dynastie von Telephos und dessen Vater Herakles. Die Figur des Herakles bildete dabei augenscheinlich eine Klammer zwischen beiden Friesen, da der Held auch in der Gigantomachie an prominenter Stelle neben Zeus am Kampf beteiligt war. Vor dem Hintergrund der etablierten Deutung des Altars erscheint diese Konvergenz der beiden Bildthemen mit unterschiedlichen Typen des Weber´schen Modells besonders auffällig. Versteht man den Altar als ein Monument, mit dem Herrschaftsauffassung und -anspruch der Attaliden sinnfällig zum Ausdruck gebracht werden sollten, so lassen die Themen der beiden Friese die doppelte Grundlage dieser Herrschaft erkennen: traditional unter Bezugnahme auf den mythischen Ahnherren der Dynastie, charismatisch durch Verweis auf die militärische Sieghaftigkeit, die in Analogie zum Sieg der Götter über die Giganten als eine unanfechtbare Überlegenheit sowie als Grundlage der bestehenden Ordnung konzeptualisiert wurde.
Legt man diese bereits in den Bildthemen fassbare Konzeption des Monuments zugrunde, so erscheinen darüber hinaus auch die formalen stilistischen und erzählerischen Unterschiede zwischen beiden Friesen in neuem Licht. Wie in der jüngeren Forschung verschiedentlich betont, korrespondiert dabei der pathetisch-dynamische Stil des großen Frieses mit der Auffassung von der Gigantomachie als einer Auseinandersetzung von kosmischen Dimensionen, während der in nüchternen Stilformen gehaltene Telephosfries die Biographie des Heros in einer betont sachlichen Schilderung vor Augen führt. Auch die erzählerische Anlage der beiden Friese entspricht dieser Konzeption. Das „außeralltägliche“ Geschehen des Götterkampfes vollzieht sich vor den Augen des Betrachters scheinbar in einem einzigen Augenblick, wobei der Kampf in eine Reihe komplexer, ausgesprochen detailreicher Kampfgruppen untergliedert wird. Der in ihrer Dimension und Bedeutung vollkommen einmaligen, „außeralltäglichen“ Auseinandersetzung entspricht somit die synchrone Darstellungsform in Form eines einzigen monumentalen Kampfgeschehens. Demgegenüber schildert der Telephosfries die Biographie des Helden in einer Abfolge von zahlreichen Szenen, die die unterschiedlichen Taten des Heros zum Gegenstand haben. Die narrative Konzeption korrespondiert dabei gleich in zweierlei Hinsicht mit dem von Weber beschriebenen Prinzip der traditionalen Herrschaftslegitimation. Zum einen werden in der expliziten Darstellung von Herakles und der mythischen Athena-Priesterin Auge die Abkunft des Telephos und mithin der dynastische Aspekt des Mythos manifest. Zum anderen ergibt sich aus der mehrszenigen Anlage des Frieses eine Erzählweise, deren grundlegendes Prinzip ganz analog zum traditionalen dynastischen Herrschaftsmodell die chronologische Abfolge der einzelnen Szenen bildet. In der unterschiedlichen narrativen Konzeption der beiden Friese spiegeln sich damit nicht zuletzt maßgebliche Charakteristika der beiden von Weber beschriebenen Typen von Herrschaft: der Rekurs auf die ebenso herausragende wie einmalige Leistung der Herrscher durch Konzentration auf ein singuläres Schlachtgeschehen einerseits, der Verweis auf eine altehrwürdige, in vielen Stationen nachvollzogene dynastische Tradition andererseits.
Die hier für die beiden Friese des Pergamonaltars wahrscheinlich gemachte Kombination unterschiedlicher Formen der Herrschaftslegitimation ist im Zusammenhang der Konzeption des Weber´schen Modells besonders signifikant. So beschrieb Weber selbst die von ihm definierten Typen als abstrakte Kategorien, die in der historischen Realität nur selten in Reinform zu beobachten seien. Vielmehr sei die Vermischung unterschiedlicher Formen der Herrschaftslegitimation in unterschiedlichen politischen Systemen sowie in verschiedenen historischen Epochen die Regel gewesen. Versteht man den Pergamonaltar vor diesem Hintergrund als Ausdruck der attalidischen Herrschaftsauffassung, so wird offensichtlich, dass der Herrschaftsanspruch der Dynastie unter Eumenes II. gezielt auf zwei unterschiedliche Quellen der Legitimation zurückgeführt wurde, die sich komplementär ergänzten. Besonders eindrücklich manifestiert sich diese Konzeption in der Figur des Herakles, der einerseits als einziger Heros auf der Seite der Götter an der Gigantomachie beteiligt war, andererseits als Vater des Telephos zum Vorfahren der Attalidendynastie stilisiert wurde. In ihrer unterschiedlichen erzählerischen Anlage und stilistischen Ausgestaltung bilden die beiden Friese des Pergamonaltars somit ein anschauliches Beispiel für das programmatische Zusammenspiel von formaler Gestalt, narrativer Struktur und inhaltlicher Konzeption. Zugleich fällt ins Auge, wie sehr sich Eumenes II. der unterschiedlichen Möglichkeiten von Herrschaftslegitimation bewusst war und diese an dem Monument gezielt zur Anschauung bringen ließ. Das Beispiel des Pergamonaltars illustriert somit nicht zuletzt, wie das von Weber etablierte Modell auch nach 100 Jahren für die Analyse von (antiken) Herrschaftsstrukturen und -konzeptionen bereichernd wirken kann.
Burkhard Emme, Berlin
Anmerkungen:
[1] Für die hellenistischen Monarchien H.-J. Gehrke, Der siegreiche König. Überlegungen zur hellenistischen Monarchie, Archiv für Kulturgeschichte 64, 1982, 247–277; dazu kritisch H.-U. Wiemer, Siegen oder untergehen? Die hellenistische Monarchie in der neueren Forschung, in: S. Rebenich, Monarchische Herrschaft im Altertum (Berlin 2017) 305–339; für einen Überblick zur Verwendung des Begriffs in der althistorischen Forschung vgl. B. Näf, Das Charisma des Herrschers. Antike und Zeitgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jhs., in: D. Boschung – J. Hammerstaedt (Hrsg.), Das Charisma des Herrschers (Paderborn 2015) 11–52; für die Anwendung der Weber´schen Kategorien in der archäologischen Forschung mit Blick auf die Herrschaftslegitimation der römischen Kaiser vgl. den Beitrag von D. Boschung im selben Band sowie zuletzt T. Hölscher, Krieg und Kunst im antiken Griechenland und Rom. Münchner Vorlesungen zu Antiken Welten 4 (Berlin 2019) 334–336 (dort mit einem leicht modifizierten Modell).
[2] Aus der umfangreichen Literatur zum Pergamonaltar seien im Folgenden nur wenige grundlegende Publikationen genannt: H.-J. Schalles, Der Pergamon-Altar zwischen Bewertung und Verwertbarkeit (Frankfurt a.M. 1986); W.-D. Heilmeyer (Hrsg.), Der Pergamonaltar. Die neue Präsentation nach Restaurierung des Telephosfrieses (Tübingen 1997); F. Queyrel, L'autel de Pergame. Images et pouvoir en Grece d'Asie, Antiqua (Paris 2005); F.-H. Massa-Pairault, La Gigantomachie de Pergame ou l´image du monde, BCH Suppl. 50 (Paris 2007); A. Scholl, Ὀλυμπίου ἔνδοθεν αὐλή – Zur Deutung des Pergamonaltars als Palast des Zeus, JdI 124, 2009, 251–278.