15. Das 'Etrurische' Kabinett im Potsdamer Stadtschloss – ein Friedens-Zimmer
Unsere Webseiten-Redakteurin Luise Seemann berichtet aus ihren kürzlich veröffentlichen Forschungen[1] zur Rezeption antiker Vasen um 1800:
In der zweiten Hälfte des 18. Jh. entwickelte sich in Neapel, ausgelöst durch die vielen Funde antiker Keramik in der Umgebung und auf Sizilien, geradezu eine 'Vasen-Manie'. Das Sammeln antiker Keramik kam so sehr in Mode, dass sich z.B. Goethe 1786 über die hohen Preise beklagte. Der engagierteste Sammler, der Britische Gesandte William Hamilton, machte es sich zur Aufgabe, den von Winckelmann gewünschten Stilwandel zum Klassizismus durch Publikation seiner Vasen aktiv zu unterstützen. Für seine ab 1789 zusammengetragene zweite Sammlung übernahm die Herstellung des Kataloges in vier Bänden der Direktor der Königlichen Zeichenakademie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein – der breiteren Öffentlichkeit heute nur noch wegen seines Bildes „Goethe in der Campagna“ (Städel Museum, Frankfurt a. M.) bekannt. Tischbein ist von nun an „mehr Archäolog als Maler“, wie Goethe bemerkte.
Eines der von Tischbein in Kupfer (Abb. 1) gestochenen Vasenbilder (eines Glockenkraters des Malers von Athen 1472, 4. Jh. v. Chr.[2] ) zeigt den singenden und musizierenden Apollon im Kreise von unter anderem Marsyas und Olympos. Es bietet eine verblüffende Rezeptions- und Transformationsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jh., und von Athen, wo die Vase, ein Vorbild rezipierend, entstand, über Neapel, wohin sie exportiert wurde, und Potsdam (dazu siehe unten) bis Oldenburg (in Tischbeins Idyllen-Zyklus von 1819/20 im Schloss) und schließlich wieder in Neapel (auf einer Vase der Manufaktur Mollica um 1870).
Abb.1: Tischbein-Hamilton, Collection of Engravings, Bd. III Taf. 5 (gemeinfrei)
An dieser Stelle wird nur auf die Rezeption dieses Vasenbildes im sogenannten Etrurischen Kabinett im Stadtschloss in Potsdam eingegangen, die ein kleines Puzzleteil zur preußischen Geschichte liefert.
Ab der zweiten Hälfte des 18. Jh. bezeichnete man Kabinette, in denen antike Vasen (die man zunächst für etruskisch gehalten hatte, die aber meist attisch oder apulisch waren) ausgestellt waren, als etrurische (hetrurische oder etruskische) Kabinette. Der Begriff wurde bald auch für solche Zimmer üblich, deren Raumdekorationen antike Fresken aus den Vesuvstädten oder (sehr selten) Vasenbilder reproduzierten. Verbreitet wurden die Motive durch Stichwerke.
Zwischen 1802 und Anfang Mai 1804 entstand im Stadtschloss Potsdam eines der ersten Etrurischen Kabinette in Deutschland (Abb. 2). Ende des Jahres 1800 hatten König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Königin Luise die Stuckfabrik der Brüder Franz und Louis Catel in Berlin kurz nach der Eröffnung besucht. Die Brüder waren Erfinder eines speziellen, sehr haltbaren Stucks und boten auch Stuckvasen, Postamente und Wandverkleidungen im 'etrurischen Stil' an. Das Königspaar hat um 1802 mindestens dreizehn Stuckvasen bestellt. Zur gleichen Zeit wurde auch die Neugestaltung des dritten Zimmers der sogenannten Paradekammern als ein Etrurisches Kabinett in Angriff genommen. Ab 1799 waren das davor liegende Blaue und Gelbe Paradezimmer bereits unter Mitwirkung der Catel-Brüder renoviert worden.
Abb. 2: Etrurisches Kabinett Im Stadtschloss Potsdam, Blick nach Osten, Architekturmuseum Berlin (gemeinfrei)
Das Etrurische Kabinett, ein Empfangszimmer, das sechs der Stuckvasen auf niedrigen Postamenten an der Fensterseite aufnahm, wurde äußerst aufwändig mit Vertäfelungen zwölf verschiedener Edelhölzer ausgekleidet. Zwischen Pilastern mit korinthischen Kapitellen gab es in der Oberzone acht Stuck-Paneele unterschiedlicher Größe, für deren Entwürfe Franz Catel eine Rechnung stellte. Der Stuckateur Sartori hat sieben weitere kleine Paneele offenbar selbstständig ausgeführt. Louis Catel rechnete die Vasen mit zwei Postamenten und die zwei Seitenwangen des Sofas ab.
Alle figürlichen Bilder der Vasen, der Wände und des Sofas sind entweder Kopien oder Varianten der Kupferstiche im Katalog Tischbeins der Hamilton-Sammlung bzw. des fünften, nicht veröffentlichten Bandes mit Vasen auch anderer Sammlungen. Durch eine genaue Untersuchung der wenigen erhaltenen Fotografien des Kabinetts konnte die Verfasserin alle Vorbilder der Paneele in Tischbeins Katalog identifizieren; ausgenommen die Fensterseite, von der es keine Fotografie gibt.
Zwei der Stuck-Volutenkratere (Bodenvasen), die im Arbeitszimmer des Königs im Königlichen Palais (Kronprinzenpalais) standen (und 1824 im Neuen Pavillon in Charlottenburg aufgestellt wurden, wo sie auch heute wieder sind), und eine der Stuckvasen, ebenfalls ein Volutenkrater, im Etrurischen Kabinett (Abb. 3) wiederholen den Apollon des genannten Glockenkraters des 4. Jh. v. Chr. und auch die ihn umringenden Figuren wie Artemis-Hekate, Athena, Olympos und ein nun veränderter Satyr; während ein ursprünglicher Hermes, den man damals als Ares deutete, und Nike eliminiert wurden. Die Anordnung der Figuren - in zwei Registern und mit Naiskos - wurde entsprechend der Bildkonzeption apulischer Volutenkratere umgewandelt.
Abb. 3: Drei Stuckvasen im Etrurischen Kabinett des Potsdamer Stadtschlosses. Seidel 1909 (gemeinfrei)
Auch in dem Paneele über der nordwestlichen Tür des Etrurischen Kabinetts befand sich dieser Apollontyp, hier gleichsam gegen Ares und einen Totengott ansingend und spielend, nach der damaligen Interpretation wohl vom Trojanischen Krieg singend.
Der musizierende Apollon war Leitmotiv und Höhepunkt der Paradekammern. Vor dem Eintreten wies über der Tür der Ostseite eine Lyra auf diesen Gott hin. In der Blauen Kammer ließen Greifen, Musen und ein Apollon-Helios am Kachelofen bereits das Thema anklingen.
Die Untersuchung des ganzen Raumprogrammes zeigt, dass es Friedrich Wilhelm III. darauf ankam, hier seinen Friedenswillen zu bezeugen und für sein Land Fruchtbarkeit und Wohlleben heraufzubeschwören.
Der musische Apollo ist das Gegenbild des kämpferischen Rachegottes, den man im Typus des berühmten Apollo vom Belvedere um 1800 mit Napoleon assoziierte, der die Statue 1796, wie viele andere, nach Paris hatte verschleppen lassen.
Auch der Hinweis auf agrarische Fruchtbarkeit durch eleusinische Götter auf den Paneelen hatte einen aktuellen politischen Bezug, den Kampf gegen Hungersnöte.
Die Darstellung friedlichen und frommen Lebens in den Paneelen und auf den Vasen lässt sich ohne weiteres auf die politische Haltung Friedrich Wilhelms III. beziehen, der Krieg ablehnte und der Bedrohung Napoleons durch seine Neutralitätspolitik entgegenzuwirken suchte. (»Alle Welt weiß, dass ich den Krieg verabscheue und dass ich nichts Größeres auf Erden kenne, als die Bewahrung des Friedens und der Ruhe als einziges System, das sich für das Glück der Menschheit eignet.« )
Die Entstehungszeit des Kabinetts liegt zwischen dem Beginn des zweiten Koalitionskrieges gegen Napoleon von 1798, in dem Preußen neutral blieb, und dem Geheimabkommen zwischen Preußen und Russland vom 24. Mai 1804, mit dem der Preußische König seine Appeasement-Politik gezwungenermaßen aufgeben musste – aber dennoch weiterhin zögerte.
Allzu schnell haben die politischen Ereignisse die Aussage des Bildprogramms marginalisiert. Zar Alexander I. hat das Kabinett bei seinem Besuch 1805 mit Sicherheit betrachtet, denn er übernachtete im übernächsten Zimmer. Schon ein Jahr später nahm es Napoleon in Augenschein, der ebenfalls in diesem Zimmer schlief.
Ein Appell, das Etrurische Kabinett des Potsdamer Stadtschlosses wiedererstehen zu lassen
Nach dem neuen Forschungsstand wäre es möglich, das Etrurische Kabinett, samt den Ausblicken aus den Fenstern, dreidimensional virtuell wiedererstehen zu lassen.
Warum ist das ein Anliegen?
- Nach dem Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses als Brandenburgischer Landtag gibt es bei vielen Menschen Bedauern darüber, dass fast nichts an das ursprüngliche Innere erinnert. Diesem könnte mit einer virtuellen Installation abgeholfen werden.
- Das fast vergessene Kabinett in einem barocken Schloss war inhaltlich wie handwerklich ein Höhepunkt klassizistischer Raumgestaltung in Europa und zeigte in unvergleichlicher Weise die Rezeption und Aktualisierung antiker Vasenbilder aus Sammlungen in Neapel.
- Die Erforschung der als vorbildlich angesehenen Antike war damals mit dem Ziel der Aufklärung verknüpft, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern. Das Kabinett hatte eine spezifische, auch politische Aussage. Dass hier, an dem Ort, der von einigen als Sinnbild des preußischen Militarismus verstanden wird, ein pazifistisches Zimmer direkt gegenüber der Garnisonkirche von einem friedliebenden König in Auftrag gegeben wurde, könnte den historischen Blick relativieren.
[1] Luise Seemann, Transformation eines Apollon-Marsyas-Bildes. Vom Marsyas-Maler über Jacques-Louis David, Wilhelm Tischbein und Franz Catel zu den Brüdern Mollica. Rezeption der Antike, Bd. 7 (Freiburg 2024).
[2] Beazley Archive 230438. Collection of engravings from ancient vases mostly of pure Greek workmanship discovered in sepulchres in the kingdom of the Two Sicilies but chiefly in the neighbourhood of Naples during the course of the years MDCCLXXXIX. and MDCCLXXXX. now in the possession of sir W.m Hamilton, Bd. III Taf. 5: arachne.dainst.org/entity/1376726 <.