Protestschreiben des Ersten Vorsitzenden der MG
gegen die weitestgehende Streichung der griechisch-römischen Geschichte im Zuge der geplanten Reform des Rahmenlehrplans für die gymnasiale Oberstufe in Berlin-Brandenburg
an die zuständige Senatorin Katharina Günther-Wünsch
Mainz, den 20. Januar 2025
Neuer Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe, Teil C: Geschichte – Verzicht auf die Geschichte der griechisch-römischen Antike
Sehr geehrte Frau Günther-Wünsch,
als größte Fachgesellschaft der Altertumswissenschaften in Deutschland verfolgen wir die Entwicklung der vom Berliner Senat beschlossenen Reform der Oberstufen-Lehrpläne in Berlin-Brandenburg mit großer Sorge. Insbesondere die neue Fassung des Rahmenlehrplans für die gymnasiale Oberstufe, Teil C: Geschichte, entfernt sich durch das fast völlige Ausblenden der europäischen Geschichte vor der Amerikanischen Revolution unseres Erachtens von wesentlichen Grundlagen für ein produktives Miteinander in einer demokratischen und multikulturellen Gesellschaft und wird sich, über die grundlegenden gesellschaftlichen Folgen hinaus, auch negativ auf die Wissenschafts- und Kulturlandschaft in Berlin auswirken.
Nicht nur sind die Wurzeln der modernen Demokratie im antiken Griechenland zu verorten, sondern auch der Wert von Philosophie und Geistesgeschichte sowie die Bedeutung der großen monotheistischen Weltreligionen sind jungen Menschen ohne Kenntnis der griechisch-römischen Antike und des auf sie folgenden europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit kaum zu vermitteln. Nicht zuletzt waren die historischen Entwicklungen in der Antike von ganz fundamentaler Bedeutung für jene „Umbrüche, Transformationen und Krisen“, die am Anfang des neuen Rahmenlehrplans für die Jahrgangsstufe 11 stehen, dort aber nur noch in Form eines optionalen Vertiefungsmoduls angeboten werden. Ein Geschichtsunterricht, dessen Basismodule dezidiert „in der Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts bis 1914“ liegen, und der die auf diesen Zeitraum hinführenden 2.200 Jahre europäischer Geschichte einfach ausblendet, muss zwangsläufig zu einem unvollständigen, ja in vielen Punkten sogar verzerrten Bild von Mensch und Gesellschaft führen.
Dies steht in denkbar ungünstigstem Kontrast zu dem vor der Reform gültigen Rahmenlehrplan, in dem der „Grundlegung der modernen Welt in Antike und Mittelalter“ aus gutem Grund ein eigenes Modul gewidmet war. In demokratiepolitischer Hinsicht hervorhebenswert ist die Tatsache, dass sowohl die Demokratie des antiken Athen als auch die republikanische Verfassung am Beispiel Roms als Kerninhalte des mittlerweile abgelösten Curriculums verstanden wurden. Auch wenn ich Ihnen als Mitglied des Berliner Senats damit nichts Neues berichte, so möchte ich doch betonen, dass diese beiden Formen des politischen Gemeinwesens auch heute noch von höchster Relevanz sind, und dass die historischen Beispiele von Athen und Rom sich auf ganz fundamentale Weise dafür eignen, sowohl die Vorzüge der jeweiligen Systeme als auch ihre potenzielle Anfälligkeit für Populismus, Demagogie und autoritäre Bewegungen zu illustrieren.
Mit diesen historischen Inhalten verlieren Schülerinnen und Schüler durch den neuen Rahmenlehrplan deshalb einen wertvollen Orientierungsmaßstab für politische Entscheidungsprozesse, der ihnen in der schnelllebigen und unübersichtlichen Welt von Social Media und Echokammern eine große Hilfe wäre. Die gesellschaftliche Bedeutung von Krisen und Umbrüchen in der Antike und im Mittelalter war und ist von entscheidender Relevanz für das politische Denken und das historische Bewusstsein. Die Entwicklung der griechischen Stadtstaaten, die Formierung und der Fall des Römischen Reiches, der Aufstieg des Christentums und des Islam und die sozialen sowie politischen Umwälzungen zwischen dem 6. Jahrhundert v. Chr. und dem Ende der Spätantike prägten die großen politischen und gesellschaftlichen Strukturen im westlichen Eurasien und beeinflussten in maßgeblicher Weise die Entwicklung des europäischen Denkens. All diese Prozesse bieten wertvolle Einsichten in Machtstrukturen, Herrschaftsverhältnisse und den Wandel von politischen Systemen. Ihre Vermittlung fördert das historische Denken, indem sie aufzeigt, wie Gesellschaften auf Krisen reagierten und sich neu formierten. Solche Einblicke sind essenziell, um die Grundlagen unseres heutigen politischen und gesellschaftlichen Lebens zu verstehen. Aus all diesen Gründen wäre es in einer multikulturellen Großstadt wie Berlin mit seinem reichen kulturellen und religiösen Panorama von besonderer Wichtigkeit, die Geschichte der Alten Kulturen, des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der Schule zu lehren.
Aus Sicht des Hochschullehrers ist es mir außerdem zum Abschluss auch wichtig, die gravierenden Konsequenzen des neuen Rahmenlehrplans für die universitäre Ausbildung, gerade in den Geschichtswissenschaften, aber auch in den benachbarten Fächern der Altertumskunde, zur Sprache zu bringen. Sofern sie sich für ein Studium der Alten Geschichte oder der benachbarten Fächer entscheiden, werden Studierende, die ihre gymnasiale Oberstufe im neuen Rahmenlehrplan absolviert haben, ihre Studien mit weniger Vorwissen aufnehmen. Doch das ist nicht das eigentliche Kernproblem. Vielmehr wird der neue Rahmenlehrplan dazu führen, dass der fachliche Nachwuchs für die Altertumswissenschaften sowie die historischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen an den Berliner Universitäten auch im deutschlandweiten Vergleich schlechter aufgestellt sein wird. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Bereiche wie die Museumsdidaktik, vor allem in einer Stadt wie Berlin, die mit ihrer außergewöhnlichen Museumslandschaft und ikonischen Kulturschätzen wie dem Pergamonaltar eine zentrale Rolle in der Bundesrepublik, aber auch im internationalen Kontext, spielt. Diese Objekte und Monumente sind nicht nur für die Forschung von Bedeutung, sondern auch für die Schulbildung, um ein tieferes Verständnis dafür zu vermitteln, was bis zur Reform des Lehrplans als „Grundlegung der modernen Welt in Antike und Mittelalter“ auf sinnvolle und organische Art und Weise im Curriculum verankert war. Um es noch einmal in aller Klarheit zu betonen: die schulische Vermittlung dieses Wissens ist essenziell, um ein fundiertes historisches Bewusstsein und eine breite kulturelle Bildung zu fördern.
Im Namen der Mommsen-Gesellschaft fordere ich Sie deshalb dringend auf, den neuen Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe in Hinblick auf die von mir geäußerten Punkte einer kritischen Revision zu unterziehen, die der ungebrochenen demokratie-, gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Bedeutung der klassischen Antike in angemessener Weise gerecht wird.
Hochachtungsvoll
Dominik Maschek