Mehrdeutigkeiten: Rahmentheorien und Affordanzkonzepte in der archäologischen Bildwissenschaft
Tagung des Exzellenzclusters TOPOI, FU Berlin, 02.-04.11.2018
>>>English version below<<<
Frauen in Burkas, oder leere Sitze? Im vergangenen Jahr sorgte ein eigentlich harmloses Foto für eine hochemotionale Debatte in den sozialen Netzwerken: Ein Bild, das mehrere leere Bussitze zeigt, wurde von dem norwegischen Journalisten Johan Slåttavik auf einer nationalistischen Facebookseite gepostet. Dort wurde es fälschlicherweise als eine Gruppe in Burkas gekleideter Frauen interpretiert und befeuerte die Diskussion um ein mögliches Burka-Verbot. Dieser Vorfall zeigt auf verblüffende Weise, wie durch die Vorurteile der RezipientInnen eine Deutung in das Bild „hineingelesen“ wurde, die bei einer objektiven Betrachtung des Fotos kaum denkbar wäre.
Nicht nur die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Bilder in den sozialen Medien wirft die Frage nach den Rahmenbedingungen von Rezeptionsprozessen auf. Diese geraten auch bei der Auseinandersetzung mit antiken Bildern zunehmend in das Blickfeld der Forschung. Allerdings trennt die archäologische Bildwissenschaft in der Regel zwischen produktions- und rezeptionsästhetischen Ansätzen: Entweder werden die Produzenten (Maler, Bildhauer, etc.) und deren Intentionen/Botschaften in den Blick genommen, oder es wird die Abhängigkeit der Bildrezeption von äußeren Faktoren untersucht, ohne produktionsästhetische Aspekte zu berücksichtigen.
Die geplante Tagung möchte zwischen beiden Polen vermitteln. Hierzu werden „mehrdeutige“ Bilder diskutiert, d.h. solche Bilder, die unterschiedliche, voneinander abweichende Deutungen durch die RezipientInnen zulassen, zugleich aber nicht beliebig interpretierbar sind. Hierfür sollen zwei Theoriefelder herangezogen und ihre Übertragbarkeit auf antike Bilder kritisch reflektiert werden:
- Die Rahmentheorien nach Fillmore/Busse/Ziem: Rahmen (frames) sind Wissensstrukturen, über welche die einzelnen Bestandteile oder Elemente der Bilder mit dem Vor- und Hintergrundwissen der RezipientInnen verknüpft werden. Diese Rahmen interagieren miteinander, ergänzen oder widersprechen sich und können so zu einer Bilderzählung beitragen. Dies bedeutet, dass Bilder nicht per se eine einzige „richtige“ Lesart in sich tragen.
- Das Affordanz-Konzept nach Gibson/Knappett: Dinge zeichnen sich durch ein Angebot an Gebrauchsmöglichkeiten aus, dessen sich die KonsumentInnen bedienen können. Analog hierzu bieten Bilder den RezipientInnen als polyvalente Zeichensysteme unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten an, die teilweise im Bild bereits angelegt und zudem von den medialen Eigenschaften der Bilder abhängig sind. Entscheidend für die Auswahl der Möglichkeiten ist die Interaktion der RezipientInnen mit dem jeweiligen Bild bzw. Bildträger.
- Die Tagung setzt sich zum Ziel, anhand dieser beiden theoretischen Ansätze mögliche Mehrdeutigkeiten antiker Bilder zu untersuchen und zu diskutieren, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck Mehrdeutigkeiten bei der Bildrezeption von Bedeutung sein können. Dabei interessieren insbesondere folgende Fragen:
- Unter welchen Bedingungen kann die Affordanz von Bildern, d.h. ein Angebot unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten, zu Mehrdeutigkeiten bei der Bildrezeption und –interpretation führen?
- Handelt es sich bei Mehrdeutigkeiten um Abweichungen im gemeinsamen Zeichenvorrat von ProduzentInnen und RezipientInnen, also um „Missverständisse“, oder können Mehrdeutigkeiten von der Produzentenseite auch bewusst als (narrative) Strategien im Bild angelegt werden?
- Werden solche intentionellen Mehrdeutigkeiten als Darstellungsstrategien bei deskriptiven und narrativen Bildern unterschiedlich eingesetzt?
- Unter welchen Bedingungen sind intentionelle Mehrdeutigkeiten für die antiken RezipientInnen überhaupt erfassbar?
- Welche Methoden der Bildanalyse helfen dabei, intentionelle oder zufällige Mehrdeutigkeiten zu erkennen?
- Welche Rolle spielen Rezeptionskontexte für die Entstehung von Mehrdeutigkeiten und wie kommen dabei Rahmenstrukturen zum Einsatz (Nutzungskontext, Aufstellungskontext, soziokultureller Kontext der RezipientInnen, ökonomische oder politisch-ideologische Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption)?
- Dienen Mehrdeutigkeiten der Ansprache unterschiedlicher RezipientInnenkreise, wie von der Forschung immer wieder postuliert wird?
- Inwiefern treten Widersprüche und Brüche in mehrdeutigen Narrationen auf, und zu welchen Effekten führen sie?Als Keynote-Speaker werden uns Prof. Dr. Reinhard Bernbeck (FU Berlin, Institut für Vorderasiatische Archäologie), PD Dr. Habil. Stephanie Geise (Universität Münster, Institut für Kommunikationswissenschaft) und Prof. Dr. Robert Kirstein (Universität Tübingen, Institut für Klassische Philologie und GRK 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption) in die theoretischen und methodischen Grundlagen von Affordanzkonzepten und Rahmentheorien sowie Ambiguitäten literarischer Erzählungen einführen, um neue Perspektiven für die archäologischen Bildwissenschaften zu eröffnen
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Wir erbitten die Einsendung von Abstracts von 300 bis 500 Wörtern Länge sowie eines kurzen CV an Elisabeth Günther (
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. ) bis zum 01.08.2018. Die Vorträge sollen eine Länge von 25-30 Minuten nicht überschreiten, sodass genügend Zeit für die Diskussion verbleibt.Eine finanzielle Beteiligung an den Reisekosten der ReferentInnen wird angestrebt, kann aber noch nicht zugesagt werden. Es besteht die Möglichkeit, ausgewählte Beiträge in der Reihe „Topoi. Berlin Studies of the Ancient World“ als Tagungsband zu publizieren.
Die Tagung findet im Rahmen der Forschergruppen C-1 (https://www.topoi.org/group/c-1/) und C-4 (https://www.topoi.org/group/c-4/) des Exzellenzclusters TOPOI statt.
Veranstalterinnen:
Elisabeth Günther, M.A.
Prof. Dr. Johanna Fabricius
Ambiguities: Concepts of Frames and Affordances in the Study of Ancient Visual Culture
Conference of the Excellence Cluster TOPOI, FU Berlin, 02-04 November 2018
Women in burqas, or empty seats? Last year, an otherwise unexciting photo provoked a highly emotional debate in social networks: the Norwegian journalist Johan Slåttavik posted a picture showing several empty bus seats on a nationalist Facebook page. Several users then falsely interpreted the image as showing a group of women wearing burqas, fuelling a discussion about a general burqa ban. This incident shows in a startling way how viewers ascribe meaning to a photo depending on their own prejudices – and how difficult it is for an objective audience to comprehend or reconstruct this process.
The influence of images on public opinion and the framework of such reception processes have been discussed intensively, providing a fruitful stimulus for visual studies in the field of archaeology. Nonetheless, archaeological research usually separates between preconditions of production on one side, perception processes and reader-response on the other side: it takes into account either only the producers (painters, sculptors, etc.) and their intentions/messages, or focusses on reception processes without considering the economic, technical, ideological or socio-cultural frameworks of the workshops.
The conference will try to mediate between the two extreme perspectives – focusing either on frames of production or reception. In this, it will follow two different theoretical approaches:
- Frame theories according to Fillmore/Busse/Ziem: frames are structures of knowledge representation. They link single components or elements of images with background knowledge of the viewers. Frames interact with other frames, and in complementing or contradicting each other they contribute to a visual narrative. This means that images do not carry only one, alleged "correct" meaning, but can evoke multiple narrations and possess an inherent ambiguity.
- The affordance concept according to Gibson/Knappett: objects offer a range of possibilities as to how their consumers may use them, depending on their materiality and shape. Accordingly, images as polyvalent semantic systems and complex signs may offer several possible interpretations to the viewer. The reactions and interpretations of the image depend on the composition and the medial characteristics of the object as well as on the interaction between viewer and image or viewer and object respectively.
- The aim of the conference is to investigate the proposed ambiguities and multiple readings of ancient images based on frame theories and the affordance concept. It will discuss the role that ambiguities play for reception processes and the extent to which affordance may presuppose ambiguities. The following questions are of particular interest:
- Which preconditions and conditions lead to divergent readings of images?
- Should we understand ambiguities as discrepancies in the semantic vocabulary of producers and recipients, i.e. "misunderstandings", or do producers use discrepancies deliberately as (narrative) strategies?
- Do producers use different strategies to apply intentional ambiguities to descriptive and narrative images?
- Under which conditions were intentional ambiguities comprehensible for recipients in antiquity?
- Which analytic methods help to identify intentional or non-intentional ambiguities?
- How do contexts of reception constrain ambiguities, e.g. context of use, context of presentation, sociocultural context of the recipient, economic or political-ideological framework of production and reception?
- Do producers employ ambiguities to address different audiences, as postulated repeatedly?
- Do we find contradictory and broken frames in ambiguous narratives, and what are their effects?Those interested in presenting a paper (not longer than 25-30 minutes) should submit an abstract of 300-500 words and a short CV to Elisabeth Guenther (
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. ) by 01 August 2018. Unfortunately, funding for speakers’ travel and accommodation expenses cannot be guaranteed at present. We intend to publish selected papers within the series "Topoi. Berlin Studies of the Ancient World". Elisabeth Günther, M.A. - Prof. Dr. Johanna Fabricius
- Organizers:
- The conference is part of the research groups C-1 (https://www.topoi.org/group/c-1/) und C-4 (https://www.topoi.org/group/c-4/) of the Excellence Cluster TOPOI.
- Our Keynote Speakers, Prof. Dr. Reinhard Bernbeck (FU Berlin, Institute for Near Eastern Archaeology), Dr. Habil. Stephanie Geise (University of Münster, Department of Communication) und Prof. Dr. Robert Kirstein (University of Tübingen, Institute for Classical Philology und GRK 1808 Ambituity – Production and Reception) will introduce us into the concept of affordance, frame theories and ambiguities of narration. Thus, they will provide new perspectives on ambiguous images and an impetus for the study of ancient visual culture.
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Those interested in presenting a paper (not longer than 25-30 minutes) should submit an abstract of 300-500 words and a short CV to Elisabeth Guenther (
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. ) by 01 August 2018. Unfortunately, funding for speakers’ travel and accommodation expenses cannot be guaranteed at present. We intend to publish selected papers within the series "Topoi. Berlin Studies of the Ancient World".The conference is part of the research groups C-1 (https://www.topoi.org/group/c-1/) und C-4 (https://www.topoi.org/group/c-4/) of the Excellence Cluster TOPOI.
Organizers:
Elisabeth Günther, M.A.
Prof. Dr. Johanna Fabricius